Wenn das Aufstehen zur Überforderung wird – und das tägliche Leben zur Falle

Für viele beginnt es mit einem Spaziergang. Oder einem Telefonat. Vielleicht auch nur mit dem Versuch, die Küche aufzuräumen. Was für Gesunde eine Kleinigkeit ist, kann für Menschen mit ME/CFS oder Long COVID ein Wendepunkt sein – der Moment, ab dem alles kippt.

Denn wer mit post-exertional malaise (PEM) lebt, kennt das: Die kleinste Anstrengung kann Tage später zu einem Einbruch führen. Müdigkeit wird zu Erschöpfung, Denken zur Qual, der Körper zum bleiernen Käfig. Und dann gibt es da noch die besonders heimtückische Variante – Rolling PEM.

Ein Begriff, der klingt wie ein stotternder Motor. Und genau das ist es auch: ein Körper, der nie mehr ganz anspringt. Rolling PEM ist die schleichende, kumulative Form dieser Belastungsintoleranz. Keine plötzlichen Abstürze mehr, sondern ein leiser, fast unsichtbarer Abstieg – Tag für Tag ein bisschen mehr.

Der schleichende Verlust

Was Rolling PEM so gefährlich macht? Es kommt nicht mit einem Knall. Kein dramatischer Zusammenbruch. Kein klarer Warnmoment. Stattdessen nimmt man sich langsam selbst auseinander. Man erholt sich nicht mehr vollständig – nicht von einem guten Tag, nicht von einer zu langen Dusche, nicht vom Versuch, ein wenig Normalität zu leben.

Es ist, als würde man mit jedem Schritt, den man eigentlich nicht tun sollte, ein Stück Energie auf Raten zahlen – zu einem Zinssatz, der den Körper ruiniert. Der Preis? Langfristige Verschlechterung. Weniger Bewegungsfreiheit. Weniger kognitive Klarheit. Weniger von allem.

Die unsichtbare Spirale

Viele rutschen hinein, ohne es zu merken. Die Energiegrenzen verschwimmen. An einem Tag geht es überraschend gut, am nächsten nicht mehr. Doch statt sich zu schonen, will man das bisschen Kraft nutzen. Schließlich hat man Termine, Verantwortung, ein Leben. Und so beginnt die Spirale – erst unmerklich, dann erbarmungslos.

Ursachen gibt es viele: Unkenntnis über die eigenen Belastungsgrenzen. Der Druck von außen – oder schlimmer noch: der von innen. Stimmungsschwankungen. Komorbiditäten. Stress. Wetter. Ein falscher Tag zur falschen Zeit kann reichen, um das Kartenhaus einstürzen zu lassen.

Die Kunst des Weniger

Aber es gibt einen Ausweg. Er heißt Pacing. Und er beginnt mit einem radikalen Umdenken: Weniger ist mehr. Oder besser gesagt: Weniger ist überlebenswichtig.

Pacing bedeutet, alle Aktivitäten – körperlich, geistig, emotional – so zu steuern, dass sie innerhalb der eigenen Energiegrenzen bleiben. Es bedeutet, den Tag nicht nach dem Kalender zu planen, sondern nach dem Körper. Und das setzt eines voraus: Achtsamkeit.

Ein Symptomtagebuch kann helfen, Muster zu erkennen. Technische Hilfen wie Pulsmesser zeigen an, wann die körperliche Schwelle überschritten ist. Die Kunst besteht darin, nicht erst zu handeln, wenn es zu spät ist – sondern vorher.

Pausen müssen nicht verdient werden. Sie sind die Therapie. Planen, Priorisieren, Puffer einbauen – das ist keine Schwäche, sondern Überlebensstrategie. Und vor allem: Aufhören, wenn der Körper flüstert – nicht erst, wenn er schreit.

Ein Leben im Gleichgewicht

Rolling PEM lässt sich nicht einfach „besiegen“. Aber man kann lernen, es in Schach zu halten. Wer das Pacing beherrscht, gewinnt Kontrolle zurück. Vielleicht keine alte Stärke – aber Stabilität. Vielleicht keine Spontaneität – aber Vorhersehbarkeit. Und das ist mehr, als es klingt.

Denn in einer Welt, in der Leistungsfähigkeit oft mit Wert gleichgesetzt wird, ist es eine stille Revolution, sich einzugestehen: Mein Körper hat Grenzen. Und ich höre auf ihn.

Quellen

  1. Symptome von ME/CFS – Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom (CDC):
    https://www.cdc.gov/me-cfs/symptoms-diagnosis/symptoms.html
    (zuletzt aufgerufen am 19.03.2023)
  2. Alles, was Sie über die Behandlung von ME/CFS wissen wollten – Workwell Foundation:
    https://workwellfoundation.org/2023/02/17/everything-youve-ever-wanted-to-know-about-chronic-fatigue-syndrome-treatment/
    (zuletzt aufgerufen am 19.03.2023)
  3. Wie Hannah endlich gelernt hat zu pacen – und wie es ihr half – Health Rising Blog:
    https://www.healthrising.org/blog/2021/03/04/hannah-pacing-heart-rate-monitoring-chronic-fatigue-syndrome/
    (zuletzt aufgerufen am 19.03.2023)
  4. Umgang mit Post-Exertional Malaise (PEM) bei ME/CFS – CDC-Leitfaden (PDF):
    https://www.cdc.gov/me-cfs/pdfs/interagency/Managing-PEM_508.pdf
    (zuletzt aufgerufen am 19.03.2023)
  5. Pacing bei ME/CFS – ME/CFS Südafrika:
    https://mecfssa.org.au/resources/pacing
    (zuletzt aufgerufen am 19.03.2023)