Verpasste Chancen in der medizinischen Versorgung – und die Folgen.
„Es ist wohl psychosomatisch“ – wie Fehldiagnosen bei ME/CFS Patient*innen krank machen
Ein Feature über das systemische Versagen in der Diagnostik körperlicher Erkrankungen – und wie Long Covid dieses Problem verschärft.
Miriam war Marathonläuferin, promovierte Biologin, Mitte 30. Heute liegt sie den Großteil des Tages in einem abgedunkelten Zimmer. Ein Spaziergang zur Haustür kostet sie tagelang Energie. Was war passiert? Monate nach einem banalen Infekt entwickelten sich Symptome, die Ärzte nicht einordnen konnten: völlige Erschöpfung, Herzrasen, Konzentrationsstörungen. „Das ist wohl stressbedingt“, hieß es bald. „Vielleicht eine Depression?“ Eine körperliche Abklärung fand kaum statt.
Was Miriam erlebt hat, ist Alltag für viele Menschen mit ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom) – einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung, die häufig nach Infektionen auftritt und weltweit Millionen betrifft.⁽¹⁾ Und doch wird sie in Deutschland weiterhin häufig nicht diagnostiziert – oder schlimmer: vorschnell als psychosomatisch abgetan. Eine strukturelle Schwäche des Systems, die mit dem Aufkommen von Long Covid plötzlich zum Massenproblem wurde.
ME/CFS – eine Krankheit im Schatten der Psychodiagnose
ME/CFS ist keine neue Erkrankung. Bereits 1969 wurde sie von der WHO als neurologische Krankheit klassifiziert.⁽²⁾ Typisch ist ein drastischer Energieverlust, der sich durch körperliche oder geistige Anstrengung verschärft – bekannt als Post-Exertional Malaise (PEM). Weitere Symptome: kognitive Beeinträchtigungen, Schlafstörungen, Kreislaufprobleme.
Doch obwohl die Symptome eindeutig beschrieben und international anerkannt sind, wird ME/CFS in Deutschland immer noch selten korrekt diagnostiziert. Statt einer Stufendiagnostik, wie sie medizinisch geboten wäre, folgt oft ein schneller Griff zur Psychodiagnose – Depression, Somatisierungsstörung oder Burn-out. Für die Betroffenen ist das nicht nur falsch, sondern folgenreich.
Stufendiagnostik? Fehlanzeige.
Die Stufendiagnostik ist ein medizinischer Standard: Ein strukturierter Ablauf von Untersuchungen – vom Ausschluss bekannter organischer Ursachen bis zur funktionellen Diagnostik – bevor man zu psychischen Ursachen übergeht. Gerade bei Erkrankungen wie ME/CFS, deren Diagnose durch Ausschluss erfolgt, ist dieses Vorgehen essenziell.
Doch in der Realität zeigt sich: Diese Systematik wird häufig nicht eingehalten. Zahlreiche Betroffene berichten, dass körperliche Ursachen nie gründlich abgeklärt wurden – Labor, Herzuntersuchung, autonome Tests? Fehlanzeige. Stattdessen die Diagnose: „Sie haben wohl ein psychisches Problem.“
Ein medizinischer Kardinalfehler – und rechtlich problematisch. Denn laut § 630a BGB müssen Ärzt*innen nach dem „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ behandeln.⁽³⁾ Die Nichterfüllung dieser Pflicht – etwa durch unterlassene Diagnostik – kann als Behandlungsfehler gewertet werden.
Von ME/CFS zu Long Covid – die Wiederholung einer Tragödie
Die Pandemie hat das Problem der Fehldiagnosen potenziert: Seit 2020 entwickeln viele Menschen nach SARS-CoV-2-Infektionen Symptome, die denen von ME/CFS ähneln – massive Erschöpfung, Belastungsintoleranz, kognitive Einschränkungen.⁽⁴⁾ Inzwischen belegen Studien, dass ein signifikanter Anteil der Long-Covid-Betroffenen die ME/CFS-Kriterien erfüllt.⁽⁵⁾
Doch anstatt aus den jahrzehntelangen Fehlern im Umgang mit ME/CFS zu lernen, wiederholt das Gesundheitssystem dieselben Muster: Symptomatik bagatellisieren, Diagnostik unterlassen, psychisch labeln. Dabei wäre die Stufendiagnostik genau jetzt unverzichtbar – um frühzeitig zu erkennen, wer unter einem komplexen postinfektiösen Syndrom leidet und wer wirklich psychische Unterstützung braucht.
Die Folgen: Chronifizierung, Stigmatisierung, strukturelle Gewalt
Eine verpasste Diagnose ist keine harmlose Panne – sie kann Leben zerstören:
- Chronifizierung: Ohne adäquate Diagnostik und Therapie (etwa Pacing bei ME/CFS) verschlechtert sich der Zustand. Aus „nur erschöpft“ wird „bettlägerig“.
- Fehlbehandlung: Wer eine Depression diagnostiziert bekommt, wird oft zu Aktivierungstherapien gedrängt – für ME/CFS eine potenziell schädliche Maßnahme.⁽⁶⁾
- Stigmatisierung: Eine falsche Psychodiagnose erzeugt Misstrauen im Umfeld, beim Arbeitgeber, bei Versicherungen. Die Erkrankung wird unsichtbar gemacht.
- Rechtliche Nachteile: Der Zugang zu Sozialleistungen, Reha oder Hilfsmitteln wird durch falsche Diagnosen massiv erschwert.
Psychisch belastet ≠ psychisch krank
Natürlich ist eine chronische Erkrankung psychisch belastend. Doch das heißt nicht, dass die Ursache psychisch ist. Studien zeigen: ME/CFS-Patient*innen waren vor Krankheitsbeginn meist psychisch gesund – und entwickelten depressive Symptome erst als Folge der Erkrankung.⁽⁷⁾ Eine psychische Reaktion ist keine psychische Ursache.
Gerade deshalb ist eine differenzierende Diagnostik so entscheidend. Nicht jede Erschöpfung ist Burnout. Nicht jede Konzentrationsstörung Depression. Wer vorschnell psychologisiert, verstellt den Weg zur echten Diagnose – und damit zur passenden Therapie.
ME/CFS ernst nehmen – Diagnostik standardisieren
ME/CFS ist eine körperliche Erkrankung. Ihre Missachtung in der Diagnostik ist kein individuelles Versäumnis, sondern ein systemisches Problem. Die Lehre aus der Pandemie muss sein: Wer schwere, chronische Krankheiten wie ME/CFS nicht systematisch diagnostiziert, verstößt gegen medizinische, ethische und rechtliche Standards – und gefährdet Patient*innen.
Was es jetzt braucht:
- Verpflichtende Stufendiagnostik bei anhaltender Erschöpfung
- Aufklärung über ME/CFS in der medizinischen Aus- und Weiterbildung
- Sanktionierung von Behandlungsfehlern durch unterlassene Diagnostik
- Trennung von psychischer Belastung und psychischer Ursache
Denn nicht die Patienten sind das Problem – sondern ein System, das wegsieht.
Fußnoten / Quellen:
- Nacul et al. (2011): Estimating the prevalence of ME/CFS in the UK. BMC Medicine
- WHO ICD-10: G93.3 (ME/CFS als neurologische Erkrankung)
- BGB § 630a: Behandlungsvertrag nach aktuellem Stand der Wissenschaft
- Davis et al. (2021): Characterizing Long COVID. medRxiv
- Komaroff & Lipkin (2021): Insights from ME/CFS for Long Covid. Trends in Molecular Medicine
- NICE Guidelines (2021): ME/CFS – do not use Graded Exercise Therapy. [www.nice.org.uk]
- Jason et al. (2011): Psychiatric Comorbidity in ME/CFS. Journal of Clinical Psychology