Wenn das Virus nicht geht: Wie SARS-CoV-2 das Gehirn langfristig schädigen könnte

Ein Feature über die möglichen neurodegenerativen Folgen von COVID-19 – und warum es Zeit wird, die richtigen Lehren aus der HIV-Forschung zu ziehen.


Seit Beginn der Pandemie berichten viele Menschen, die eine COVID-19-Infektion überstanden haben, von anhaltenden kognitiven Problemen: Konzentrationsstörungen, Gedächtnislücken, Orientierungslosigkeit – populär auch als „Brain Fog“ bekannt. Was anfangs als vorübergehendes Symptom galt, entwickelt sich für manche zur dauerhaften Belastung. Doch das könnte nur die Spitze des Eisbergs sein. Neuere Studien deuten darauf hin, dass SARS-CoV-2 in manchen Fällen Prozesse im Gehirn auslöst, die frappierend an die neurologischen Folgen von HIV erinnern – inklusive einer erhöhten Anfälligkeit für Alzheimer, Parkinson und andere neurodegenerative Erkrankungen.

Eine gefährliche Parallele: SARS-CoV-2 und HIV

Bereits im September 2020 wurden erste Beobachtungen veröffentlicht, die darauf hindeuteten, dass SARS-CoV-2 – ähnlich wie HIV – das Immunsystem angreift, insbesondere durch eine Reduktion der CD4-T-Zellen. Nur einen Tag später stellte der Neurologe Kenneth Podell die Hypothese auf, dass manche COVID-Überlebende Symptome entwickeln könnten, die mit dem sogenannten „HIV-assoziierten neurokognitiven Verfall“ vergleichbar sind. Zu diesen Symptomen zählen neben kognitiven Einbußen auch Herzrhythmusstörungen sowie das Auftreten von Krankheiten, die normalerweise mit AIDS in Verbindung gebracht werden.

Doch was bedeutet das konkret?

Asymptomatische Schädigung – das stille Fortschreiten

Ein Team um Dr. Apple wies im Januar 2022 auf das Phänomen der Asymptomatischen Neurokognitiven Beeinträchtigung hin – ein Zustand, bei dem Betroffene zunächst keine merklichen Symptome zeigen, obwohl das Gehirn bereits geschädigt wird. Besonders alarmierend: Die molekularen Prozesse, die dabei in Gang gesetzt werden, gleichen denen, wie man sie von HIV kennt.

SARS-CoV-2 scheint gezielt die Produktion von ribosomaler RNA zu stören – ein fundamentaler Mechanismus für die Eiweißsynthese in Zellen. Eine ähnliche Störung verursacht das Tat-Protein von HIV.¹ Dieses Protein greift unter anderem in die Funktion von Astrozyten und Mikroglia ein – zwei Zelltypen, die für die Gesundheit des Gehirns entscheidend sind.

Mikroglia, Ferroptose und Parkinson

Mikroglia, die Immunzellen des Gehirns, können laut einer Studie von Juni 2021 produktiv mit SARS-CoV-2 infiziert werden – ebenso wie bei HIV.² In beiden Fällen wird eine Art des Zelltods namens „Ferroptose“ ausgelöst, der im Verdacht steht, zur Entwicklung von Parkinson beizutragen.³ Für HIV ist belegt, dass das Tat-Protein diesen Prozess fördert.⁴

Auch Astrozyten – eine weitere Zellart im Gehirn, die unter anderem für die Energieversorgung von Nervenzellen zuständig ist – zeigen bei COVID-19-Infizierten Hinweise auf langfristige Infektionen.⁵ Das macht sie zu potenziellen Virusreservoirs, ähnlich wie bei HIV.⁶

Von Amyloid-Ablagerungen zu Alzheimer?

Schon länger wird diskutiert, ob COVID-19 das Risiko für Alzheimer erhöht. Eine Theorie ist, dass SARS-CoV-2 – ähnlich wie HIV – über das Tat-ähnliche Protein in den Astrozyten zur vermehrten Ablagerung von Amyloid im Gehirn beiträgt. Amyloid ist ein Protein, das sich in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten ablagert und dort Zellen schädigt. Studien vermuten, dass eine Fehlregulation des RAGE-Rezeptors und des sogenannten Scavenger-Rezeptors B1 dabei eine zentrale Rolle spielt.⁷

Bereits 2021 wurde ein SARS-CoV-2-Protein entdeckt, das wie das HIV-Nef-Protein agiert. Es unterdrückt Immunprozesse, fördert Entzündungen in Gefäßen und trägt zur Entstehung von Atherosklerose bei – ebenfalls ein Risikofaktor für Alzheimer.⁸⁻⁹

APOE4 – ein genetisches Risiko

Ein weiteres Puzzlestück ist das Gen APOE. Die Variante APOE4 ist seit Langem als Risikofaktor für Alzheimer bekannt – und auch für einen schweren Verlauf bei COVID-19.¹⁰ Offenbar ist APOE4 weniger effektiv darin, die schädlichen Wirkungen von HIV-Tat oder dem SARS-CoV-2-Äquivalent zu neutralisieren.¹¹⁻¹³ Dies könnte erklären, warum Träger dieser Genvariante häufiger schwere neurologische Folgen nach COVID-19 erleiden.

Was jetzt?

Die Datenlage ist eindeutig: Es gibt zahlreiche Parallelen zwischen den neurokognitiven Schäden bei HIV und jenen, die mit Langzeitfolgen von SARS-CoV-2 in Verbindung gebracht werden. Dennoch scheint die gesellschaftliche und medizinische Aufmerksamkeit dem Ausmaß dieser Problematik nicht gerecht zu werden.

Eine wissenschaftlich nüchterne Debatte über mögliche chronische Infektionen mit SARS-CoV-2 und deren neurologische Langzeitfolgen ist dringend nötig – auch wenn dies bedeutet, unbequeme Vergleiche mit der HIV-Forschung zuzulassen. Denn wer heute Symptome ignoriert, riskiert, dass morgen ganze Generationen mit Alzheimer, Parkinson oder kognitivem Verfall leben müssen – oder nicht mehr leben können.


Fußnoten / Quellen:

  1. Cell Reports (2024): SARS-CoV-2 targets ribosomal RNA biogenesis.
  2. Frontiers in Cellular Neuroscience (2021): Microglial Implications in SARS-CoV-2 Infection and COVID-19.
  3. Cell Death Discovery (2024): COVID-19 related neurological manifestations in Parkinson’s disease: has ferroptosis been a suspect?
  4. PubMed (2023): HIV-1 Tat-mediated microglial ferroptosis involves the miR-204-ACSL4 signaling axis.
  5. iScience (2022): In SARS-CoV-2, astrocytes are in it for the long haul.
  6. LinkedIn Article: Multiple Neuroinvasive Pathways in COVID-19.
  7. Nature Communications (2021): SARS-CoV-2 inhibits induction of the MHC class I pathway by targeting the STAT1-IRF1-NLRC5 axis.
  8. Nature Cardiovascular Research (2023): SARS-CoV-2 infection triggers pro-atherogenic inflammatory responses in human coronary vessels.
  9. Scientific Reports (2024): Neurofilament light chain and glial fibrillary acid protein levels are elevated in post-mild COVID-19.
  10. Frontiers in Medicine (2023): ApoE4 associated with severe COVID-19 outcomes via downregulation of ACE2.
  11. Journal of Neuroinflammation (2018): Apolipoprotein E isoform dependently affects Tat-mediated HIV-1 LTR transactivation.
  12. Brain Research (2006): Increased vulnerability of ApoE4 neurons to HIV proteins and opiates.
  13. PubMed (2004): Effects of apolipoprotein E on the HIV protein Tat in neuronal cultures.