ME/CFS, POTS, MCAS oder EDS – sie gelten als „seltene Krankheiten“. Doch was, wenn sie einfach nur systematisch ignoriert wurden? Warum immer mehr chronisch Kranke das Vertrauen in die Medizin verlieren – und was sich ändern muss.
Zwischen Zahnarztstuhl und Abwertung
Lindas Herz rast schon beim Zähneputzen. Auf dem Weg zur Haustür droht ihr Kreislauf zu kippen. Die Diagnose: POTS – posturales Tachykardiesyndrom. Dazu EDS (Ehlers-Danlos-Syndrom) und MCAS, ein Mastzellaktivierungssyndrom. Drei Krankheiten, die oft als selten gelten – und doch alles andere als harmlos sind.
„Ich wurde von so vielen Ärzt*innen nicht ernst genommen. Man hat mir gesagt, ich solle einfach mal spazieren gehen“, erzählt sie. Solche Erfahrungen sind Alltag für viele chronisch Kranke – besonders für Menschen mit unsichtbaren Symptomen.
Wenn Ärzt*innen spotten
Ein viraler Reddit-Post bringt die stille Wut auf den Punkt:
„Ärztinnen auf medizinischen Subreddits machen sich über Patientinnen mit POTS, MCAS und EDS lustig. Sie tun so, als wären das Trends – und wir würden einfach gern krank sein.“
Patientinnen, die verzweifelt nach Antworten suchen, stoßen auf Spott und Augenrollen. Eine US-Studie (Chu et al., 2021) zeigt: 67 % der ME/CFS-Patientinnen erlitten einen Crash, von dem sie sich nie wieder erholten – weil man ihnen nicht glaubte oder falsch behandelte.
Die große Fehleinschätzung: „Das ist doch selten!“
POTS, MCAS und EDS wurden lange als selten abgestempelt – ein gefährlicher Trugschluss.
- POTS betrifft laut Mayo Clinic etwa 1 % der Bevölkerung – überwiegend junge Frauen.
- EDS, besonders die hypermobile Form, ist unterdiagnostiziert.
- MCAS wurde jahrzehntelang kaum erforscht, obwohl es das Leben Betroffener massiv einschränkt.
Was diese Erkrankungen gemeinsam haben: Sie werden in der medizinischen Ausbildung kaum behandelt – und daher oft übersehen oder nicht ernst genommen.
„Diese Krankheiten wurden nicht überdiagnostiziert – sie wurden jahrzehntelang ignoriert“, sagt Prof. Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité.
Die Rolle von Long COVID
COVID-19 hat das Unsichtbare sichtbar gemacht. Viele Menschen, die nach einer Infektion nicht wieder gesund wurden, erhielten erst durch Long COVID Diagnosen wie ME/CFS, POTS oder MCAS.
„COVID war ein Kipppunkt“, erklärt Dr. David Putrino (Mount Sinai Hospital, NY). „Viele hatten unentdeckte neuroimmunologische Schwächen – jetzt traten sie offen zutage.“
Die WHO geht davon aus, dass etwa 10 % der COVID-Infizierten langfristige Symptome entwickeln. Das Problem: Die medizinische Versorgung ist oft überfordert – und veraltete Denkweisen bleiben bestehen.
Wenn Hilfe zum Schaden wird
„Gaslighting“ in der Medizin bedeutet: Die Symptome der Patient*innen werden heruntergespielt, auf die Psyche geschoben oder als „weiblich-hysterisch“ abgetan.
Dabei warnen offizielle Leitlinien längst:
- Die britische NICE-Leitlinie zu ME/CFS (2021) rät ausdrücklich von körperlichem Aufbautraining (GET) ab.
- Die US-CDC betont, dass ME/CFS, POTS & Co. körperliche Erkrankungen mit neurologisch-immunologischer Basis sind.
Trotzdem erleben viele Patient*innen bis heute das Gegenteil: Misstrauen, Fehldiagnosen und abfällige Bemerkungen.
Warum so viele Betroffene verstummen
„Wir sind damit aufgewachsen, Ärztinnen zu vertrauen“, schreibt eine Userin. „Stattdessen erleben wir Gaslighting, falsche Diagnosen – und Ärztinnen, die sich im Netz über uns lustig machen.“
Besonders tragisch: Viele Betroffene verlieren das Vertrauen in das gesamte System. Termine werden gemieden, dringend notwendige Diagnosen verzögern sich – mit oft lebenslangen Folgen.
Die Wut wächst – und sie ist berechtigt
Was viele Ärzt*innen als „Trenddiagnosen“ abtun, sind in Wahrheit verpasste Diagnosen. Die mediale Aufmerksamkeit rund um Long COVID hat eine Welle ins Rollen gebracht – und damit das sichtbar gemacht, was längst hätte ernst genommen werden müssen.
Dass heute mehr Menschen ME/CFS, POTS oder EDS diagnostiziert bekommen, liegt nicht an einer Modewelle – sondern daran, dass die Medizin jahrzehntelang versagt hat.
Was jetzt passieren muss
Die Forderungen der Betroffenen sind klar:
- Mehr medizinisches Wissen über postvirale, neuroimmunologische und seltene Erkrankungen
- Stärkere Forschungsförderung, auch jenseits von Public Health Trends
- Empathischer Umgang mit Menschen, deren Krankheit man nicht sehen kann
- Ernstnehmen statt bewerten
Denn wie eine Betroffene sagt:
„Wir wollen nicht krank sein. Wir wollen gehört werden.“
Quellen:
- Chu et al. (2021): Long-Term Health Outcomes in ME/CFS Patients After Crashes
- Mayo Clinic (2020): POTS – Epidemiology and Management
- NICE NG206 Guideline (2021): https://www.nice.org.uk/guidance/ng206
- CDC – ME/CFS Info: https://www.cdc.gov/me-cfs
- WHO (2023): Long COVID Bericht
- Scheibenbogen, C. – Tagesspiegel Interview
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