Zwischen Hoffnung und Schuld: Wie kognitive Therapien chronisch Kranke marginalisieren

Von außen wirkt es wie ein Fortschritt: Meditation, Achtsamkeit, kognitive Verhaltenstherapie. Wer krank ist, soll lernen, anders zu denken – und dann soll es besser werden. Doch hinter dieser vermeintlich humanen Fassade verbirgt sich eine stille Verschiebung medizinischer Verantwortung.

Ein medizinisches Glaubensbekenntnis

Paul Garner, ehemals Direktor der Cochrane Infectious Diseases Group, hat in der Long Covid-Community eine erstaunliche Wandlung durchlaufen. Nachdem er seine eigene Covid-Erkrankung zunächst öffentlich dokumentierte, erklärte er später, durch kognitive Techniken gesund geworden zu sein. In seinem Beitrag für das British Medical Journal (BMJ) während der ME Awareness Week, gemeinsam mit Alastair Miller und anderen, ruft er zu „Hoffnung“ und „multidisziplinärer Versorgung“ auf – ein Appell, der gut klingt, aber tieferliegende Probleme verschleiert.

Denn das Papier ignoriert zentrale Symptome wie die belastungsinduzierte Zustandsverschlechterung (PEM) und vermischt sie mit allgemeiner Erschöpfung. Es reproduziert veraltete Modelle, in denen Betroffene durch „maladaptive Gedankenmuster“ selbst zur Ursache ihrer Erkrankung erklärt werden. Der Verdacht: Hinter freundlichen Begriffen wie „Hoffnung“ und „neuroplastischer Schmerz“ steckt eine rhetorische Strategie, um Kritik zu entwaffnen.

Hoffnung als rhetorisches Schutzschild

In der Psychosomatik ist Hoffnung mehr als ein Gefühl – sie ist Ware. Indem kognitive Therapien als „hoffnungsvoll“ inszeniert werden, lassen sich kritische Stimmen leicht als „negativ“ oder „gegen Heilung“ abtun. Diese Strategie, auch „Hopium“ genannt, schützt nicht nur fragwürdige Behandlungskonzepte, sondern verhindert offene Debatten.

Garner und Mitautor:innen bedienen sich dabei bewusst einer medizinischen Sprache, die wissenschaftlich klingt, aber psychosoziale Erklärungen priorisiert. Diese „biologische Tarnung“ (engl. biological window dressing) tarnt psychologische Interventionen als evidenzbasierte Medizin.

SIRPA – eine Bewegung mit Missionsdrang

Ein tieferer Blick in Garners Präsentation bei der SIRPA-Konferenz (Stress Illness Recovery Practitioners’ Association) zeigt: Dies ist kein individueller Ausrutscher, sondern Teil eines wachsenden Systems. Die Organisation gründet sich auf die Ideen des umstrittenen Arztes John Sarno, der emotionale Traumata als Ursache körperlicher Erkrankungen postulierte – ohne belastbare Evidenz.

Die SIRPA-Grundsätze lesen sich wie ein Glaubensbekenntnis: Schmerzen seien Ausdruck unterdrückter Emotionen. Symptome entstünden durch „Gefahrensignale“ im Gehirn, die man durch „Vertrauen“ und „Reframing“ beseitigen könne. Diese Theorien, so der Artikel von Long Covid Advocacy, sind nicht nur unwissenschaftlich, sondern potenziell gefährlich – besonders bei Krankheiten mit klarer physiologischer Grundlage wie ME/CFS.

Wenn persönliche Erfahrung zur Doktrin wird

Garner tritt nicht nur als Erfahrungsberichtender auf, sondern als Evangelist. Seine eigene Geschichte wird zur Blaupause erklärt – mit dem impliziten Vorwurf: Wer nicht gesund wird, hat sich wohl nicht genug bemüht. Das ist nicht nur unethisch, sondern verstärkt das Stigma gegenüber Erkrankten.

Dabei fehlt es den propagierten Methoden an Studien, Ethikprüfungen oder Langzeitdaten. Stattdessen stützt man sich auf persönliche Erfolgsgeschichten – ein Rezept für systematische Ausgrenzung.

Nociplastischer Schmerz – neue Begriffe, alte Probleme

Ein weiteres Beispiel für die Verschleierungstaktik: der Begriff „nociplastischer Schmerz“, offiziell von der International Association for the Study of Pain anerkannt. In der Anwendung, etwa durch NHS-Ärzte wie Dr. Deepak Ravindran, verschwimmen jedoch die Grenzen zur umstrittenen „neuroplastischen“ Schmerztheorie. Beide verlagern Ursachen ins Gehirn und laden zur psychologischen Deutung ein – oft zulasten der Betroffenen.

Institutionelle Verflechtungen und Advocacy-Versagen

Besonders kritisch: Viele der Protagonisten – darunter auch Professor Jon Stone – arbeiten in offiziellen Positionen und beeinflussen Richtlinien etwa für Long Covid. Gleichzeitig treten sie auf Konferenzen mit psychologisierenden Agenden auf. Auch Patientenorganisationen übernehmen zunehmend deren Sprache, oft ohne sich der damit verbundenen Risiken bewusst zu sein.

Wenn Ruhe krank macht

Besonders für schwer erkrankte Menschen mit ME/CFS oder Long Covid kann die Anwendung von CBT oder Achtsamkeit sogar gefährlich sein. Aktivitäten wie Meditation, Atemübungen oder Journaling erfordern Energie – und können schwere Rückfälle auslösen. Der Versuch, diese Methoden als „restorativ“ zu verkaufen, verkennt die Realität von PEM und führt in manchen Fällen zur dauerhaften Verschlechterung.

Achtsamkeit als Ware

Die Industrialisierung von Meditation und kognitiven Therapien folgt einem kapitalistischen Prinzip: Sie sind günstig, massenkompatibel und verlagern Verantwortung auf den Einzelnen. Das Konzept der „McMindfulness“ (Ronald Purser) beschreibt, wie buddhistische Praktiken entpolitisiert und kommerzialisiert werden – etwa wenn bei Amazon in Plastikboxen meditiert wird, statt Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Falsche Integration und emotionale Erpressung

Die Rhetorik der Mind-Body-Anhänger:innen funktioniert besonders perfide: „Wir glauben dir. Deine Krankheit ist real.“ Doch die vorgeschlagenen Lösungen sind rein psychologisch. Das ist keine Integration von Körper und Geist, sondern eine Hierarchie – mit dem Gehirn als Puppenspieler. Kritik daran wird als „toxisch“ oder „negativ“ abgetan, was Betroffene isoliert und mundtot macht.

Ein Systemversagen

Am Ende bleibt die Erkenntnis: Die kognitive Wende in der Behandlung chronischer Krankheiten ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Sie ist Ausdruck institutioneller Vernachlässigung, die lieber Hoffnung verkauft als Ursachen erforscht. Oder wie es Lauren Berlant beschrieb: Cruel Optimism – wenn ein Versprechen zur Unterdrückung wird.

Quellenverzeichnis:

  • https://www.bmj.com/content/385/bmj.q951
  • https://www.sirpauk.com/
  • https://www.iiasp-pain.org/terminology/neuropathic-pain/
  • https://www.amazon.com/AmaZen
  • Purser, R. (2019). McMindfulness: How Mindfulness Became the New Capitalist Spirituality
  • Bhikkhu Bodhi, zit. nach https://tricycle.org/magazine/mindfulness-defined/