Wenn das Herz aus dem Takt gerät – warum ME/CFS auch eine kardiologische Krankheit ist

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS, gilt seit Jahrzehnten als eine der rätselhaftesten Krankheiten der modernen Medizin. Wer betroffen ist, lebt nicht bloß mit „Müdigkeit“, wie der verkürzende Name suggeriert. Es ist eine schwere, multisystemische Erkrankung, die das Leben von Hunderttausenden in Deutschland prägt – und sie trifft nicht nur Muskeln, Gehirn und Immunsystem, sondern auch Herz und Kreislauf. Genau dieser Aspekt wurde lange unterschätzt. Neuere Studien zeigen, dass ME/CFS mit spezifischen kardiologischen Auffälligkeiten einhergeht – und dass diese Besonderheiten im klinischen Alltag häufig übersehen werden.

Schon früh berichteten Patientinnen und Patienten über Herzrasen, Schwindel oder eine unerklärliche Kreislaufschwäche beim Aufstehen. Lange galten diese Symptome als Begleiterscheinungen der Erschöpfung. Inzwischen weiß man: Sie spiegeln eine messbare Dysregulation des autonomen Nervensystems wider. Besonders auffällig ist die Herzratenvariabilität, kurz HRV. Normalerweise zeigt sie, wie gut das Herz zwischen Ruhe und Belastung takten kann. Bei Menschen mit ME/CFS ist sie in zahlreichen Untersuchungen deutlich reduziert. Eine Meta-Analyse, veröffentlicht 2019 in Frontiers in Physiology, dokumentiert eine konsistente Verschiebung: weniger parasympathische Aktivität, mehr Sympathikus, ein vegetatives Gleichgewicht im Dauerstress. Für die Betroffenen bedeutet das nicht nur eine innere Unruhe, sondern auch eine Einschränkung der kardialen Anpassungsfähigkeit.

Doch es geht nicht nur um Rhythmus. Auch strukturell zeigen sich Unterschiede. Kardiologen der Universität Newcastle in Großbritannien konnten in Herz-MRTs nachweisen, dass die Ventrikel von ME/CFS-Patienten kleiner sind als die gesunder Vergleichspersonen. Die Studie, publiziert 2016 in Open Heart, zeigte deutlich reduzierte enddiastolische Volumina, Schlagvolumina und Herzzeitvolumina – bei vollkommen erhaltener Auswurffraktion. Das Herz pumpt also kräftig, aber es pumpt weniger, weil es nicht genügend Blut zurückbekommt. „Das ist kein klassisches Bild einer Herzinsuffizienz, sondern eher ein Vorlastproblem“, kommentierte Studienleiterin Julia Newton. Der Begriff Preload-Failure hat seither Einzug in die Literatur gefunden.

Wie gravierend diese Besonderheiten sein können, zeigt sich bei Belastungstests. In den letzten Jahren haben US-amerikanische Forscher Spiroergometrien an zwei aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt. Bei Gesunden sind die Ergebnisse an Tag zwei stabil oder sogar besser. Bei Menschen mit ME/CFS dagegen sinken Leistung, Sauerstoffaufnahme und Kreislaufparameter spürbar ab. Diese „Crash-Reaktion“ ist das objektive Pendant zur Post-Exertional Malaise, jener typischen Symptomverschlechterung nach Anstrengung, die Betroffene oft tagelang ans Bett fesselt. Besonders auffällig: Viele Patientinnen und Patienten entwickeln dabei eine chronotrope Inkompetenz, also eine unzureichende Steigerung der Herzfrequenz unter Belastung. Eine Beobachtung, die man sonst eher bei älteren Menschen mit Herzkrankheiten kennt, hier aber bei Dreißig- oder Vierzigjährigen ohne strukturelle Kardiopathie auftritt.

Auch die Gefäße verhalten sich anders. Während die arterielle Steifigkeit bei gesunden Menschen nach Anstrengung abnimmt, bleibt sie bei ME/CFS-Betroffenen erhöht. Eine 2021 in Journal of Translational Medicine publizierte Studie fand genau diesen Effekt: ein starr bleibendes Gefäßsystem, das auf Belastung nicht flexibel reagiert. Parallel berichten andere Arbeitsgruppen über eine ausgeprägte endotheliale Dysfunktion – die Gefäßinnenhaut reagiert schlechter auf Reize, die normalerweise eine Erweiterung hervorrufen. Eine Untersuchung von Scherbakov und Kollegen in ESC Heart Failure (2020) zeigte, dass diese Endothelstörung auch mit der Schwere der Symptomatik korreliert. Hinzu kommen Hinweise auf prothrombotische Veränderungen, etwa die Bildung von Mikrogerinnseln, wie sie 2023 von Nunes et al. in Clinical Hemorheology and Microcirculation beschrieben wurden. Zusammengenommen entsteht das Bild einer generalisierten vaskulären Störung, die nicht nur Arme und Beine betrifft, sondern auch die koronare Mikrozirkulation.

Die klinische Relevanz wird durch neue epidemiologische Daten unterstrichen. Eine Analyse auf Basis des US-amerikanischen „National Health Interview Survey“ fand 2025 in Scientific Reports publiziert, dass Menschen mit ME/CFS ein signifikant höheres Risiko haben, kardiovaskuläre Erkrankungen zu entwickeln – auch nach Korrektur für klassische Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes oder Rauchen. Das Deutsche Ärzteblatt berichtete bereits in früheren Jahren, dass ME/CFS-Patientinnen und -Patienten häufig über Palpitationen, Synkopen oder orthostatische Beschwerden klagen, Symptome, die nicht als psychogen abgetan werden dürfen, sondern ernsthafte kardiologische Hinweise sind.

Für die Praxis bedeutet das: Ein normales Echokardiogramm oder ein unauffälliges Ruhe-EKG reichen nicht aus, um die kardialen Besonderheiten bei ME/CFS zu erfassen. Notwendig sind spezifische Untersuchungen: 24-Stunden-EKGs mit HRV-Analyse, Kipptisch- oder aktive Standtests, Spiroergometrien – idealerweise im Zwei-Tage-Protokoll – und moderne Bildgebungsverfahren wie Kardio-MRT oder PET, wenn ein Verdacht auf Mikrozirkulationsstörungen besteht. Gerade Kardiologinnen und Kardiologen könnten so entscheidend dazu beitragen, dass die Erkrankung ernst genommen und differenzierter diagnostiziert wird.

Denn ME/CFS ist keine Müdigkeit, die man mit Willenskraft überwindet. Es ist eine komplexe Erkrankung, die Herz und Gefäße in subtiler, aber messbarer Weise verändert. Wer im Sprechzimmer nur nach klassischen Parametern sucht, übersieht leicht die entscheidenden Hinweise. Es ist an der Zeit, genauer hinzuschauen – und die leisen Signale des Herzens nicht länger zu überhören.


Quellen (Auswahl):

  • Nelson MJ et al.: Evidence of altered cardiac autonomic regulation in ME/CFS: systematic review & meta-analysis. Front Physiol 2019.
  • Hollingsworth KG et al.: Reduced cardiac volumes in chronic fatigue syndrome associate with plasma volume but not length of disease. Open Heart 2016.
  • Davenport TE et al.: Chronotropic intolerance in ME/CFS. J Transl Med 2019.
  • Bond J et al.: Markers of arterial stiffness after exertion in ME/CFS. J Transl Med 2021.
  • Scherbakov N et al.: Peripheral endothelial dysfunction in ME/CFS. ESC Heart Fail 2020.
  • Nunes JM et al.: Cardiovascular and haematological pathology in ME/CFS. Clin Hemorheol Microcirc 2023.
  • Denu MKI et al.: Association between ME/CFS and cardiovascular disease. Sci Rep 2025.
  • Deutsches Ärzteblatt: Chronisches Fatigue-Syndrom: Symptome und Versorgungslücken (verschiedene Ausgaben).