Es ist ein wichtiger und kleiner Akt, der den Unterschied machen könnte. Eine Blutspende – Routine für viele, Lebensretter für andere. Doch was, wenn mit dem scheinbar harmlosen Serum mehr übertragen wird als rote Blutkörperchen, Plasma und Antikörper? Was, wenn es eine Substanz gibt, die nicht testbar ist, nicht sichtbar, aber potenziell krank macht? Zwei aktuelle Studien belegen genau das.. Und sie könnten alles verändern.
Die erste stammt von einem internationalen Forschungsteam und wurde im Mai 2024 auf dem Preprint-Server bioRxiv veröffentlicht. Die Wissenschaftler injizierten Mäusen das Immunglobulin G (IgG) aus dem Blut von Long-COVID-Patienten. Kurz darauf zeigten die Tiere typische Symptome: reduzierte Belastbarkeit, kognitive Störungen, vegetative Dysregulation. Kein Virus, kein Bakterium, sondern allein das Serum veränderte den Gesundheitszustand. Was immer in diesem Blut zirkuliert – es hat eine Wirkung. Eine krankmachende. Die vollständige Studie ist hier abrufbar:
https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2024.05.30.596590v1
Die zweite Studie, erschienen Ende Juli 2025 im Fachjournal Biofabrication, geht noch einen Schritt weiter. In einem dreidimensionalen Muskelmodell aus menschlichen Zellen beobachteten Forscher, was passiert, wenn das Gewebe mit Blutserum von ME/CFS- und Long-COVID-Patienten in Kontakt kommt. Das Ergebnis: Innerhalb von 48 Stunden verlieren die Muskelzellen messbar an Kraft, der Energiestoffwechsel bricht zusammen, Mitochondrien fragmentieren. Es ist ein zellulärer Zusammenbruch – ausgelöst allein durch das Blut der Patienten. Und das in einem Test-Setup, das transparent und reproduzierbar ist. Nachzulesen ist diese Studie hier:
https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1758-5090/adf66c
Beide Studien liefern denselben beunruhigenden Befund: Irgendetwas im Blutserum dieser Patienten wirkt toxisch – auf Tiere, auf Zellen, vielleicht auch auf Menschen. Was genau es ist, wissen die Forscher noch nicht. Diskutiert werden Autoantikörper, persistierende Virusfragmente, fehlgeleitete Signalmoleküle oder Stoffwechselprodukte. Klar ist nur: Der Effekt ist real, reproduzierbar – und medizinisch brisant.
Denn im Gegensatz zu bekannten Infektionskrankheiten wie HIV oder Hepatitis, bei denen Blutspenden streng verboten sind, gelten für Long COVID und ME/CFS bislang keine spezifischen Einschränkungen. Wer an post-exertioneller Malaise (PEM) leidet – dem Kernsymptom beider Erkrankungen – kann theoretisch weiterhin Blut spenden. Und niemand weiß, ob das sicher ist.
Dabei sind die Zahlen alarmierend. In Deutschland leiden laut verschiedener Modellrechnung rund 650.000 bis über eine Million Menschen an ME/CFS, hinzu kommen mindestens genausoviele Betroffene mit Long COVID. Zusammen mehr als 1,5 Millionen Menschen, deren Blut theoretisch Teil des Versorgungssystems ist – obwohl unklar ist, ob es darin nicht einen übertragbaren Krankheitsfaktor gibt. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.
Der wirtschaftliche Schaden ist bereits messbar: Rund 63 Milliarden Euro pro Jahr kosten Long COVID und ME/CFS Deutschland – etwa 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Noch gravierender aber wäre ein gesundheitspolitischer Vertrauensverlust. Denn was würde passieren, wenn irgendwann öffentlich würde, dass über eine Blutspende eine Erkrankung übertragen wurde, die heute noch als „nicht infektiös“ gilt? Ein solcher Skandal würde nicht nur das Blutspendewesen erschüttern – sondern auch das Vertrauen in medizinische Institutionen.
Und die Politik? Sie schweigt. Es gibt keine nationalen Richtlinien zur Blutspende bei ME/CFS oder Long COVID. Keine verpflichtenden Abfragen, keine Warnhinweise, keine Forschungsoffensive. Dabei wäre das Vorsorgeprinzip eindeutig: Solange nicht klar ist, was im Blut dieser Patienten steckt, darf dieses Blut nicht in den Kreislauf gesunder Menschen gelangen. Alles andere ist russisches Roulette mit fremder Gesundheit.
Die beiden Studien sind ein Warnsignal. Nicht nur für Mediziner, sondern auch für Gesundheitsbehörden, Politiker, Ethikkommissionen. Denn die Frage ist nicht mehr, ob da etwas übertragen wird – sondern was es ist, wie es wirkt und wer es schützt.
Solange diese Fragen unbeantwortet bleiben, ist es grob fahrlässig, weiterhin Blutspenden von Long-COVID- oder ME/CFS-Betroffenen zuzulassen – insbesondere von jenen mit post-exertioneller Malaise. Es braucht klare Regeln, internationale Forschung und einen politischen Schutzmechanismus für die Allgemeinheit.
Denn was heute noch ein medizinisches Detail ist, könnte morgen zur systemischen Gesundheitskrise werden. Und dann wird man sich fragen müssen, warum man nicht sofort reagiert hat.