Wer an ME/CFS erkrankt ist, kennt das Paradox: viele Stunden Schlaf, manchmal zehn, zwölf oder mehr – und dennoch das Gefühl, als habe der Körper überhaupt nicht abgeschaltet. Schlaf macht nicht besser, sondern oft schlechter. Symptome werden nicht „zurückgesetzt“, sondern verschärft. Dieses Phänomen wird häufig verkürzt als „schlechte Schlafqualität“ beschrieben. Doch diese Formulierung verharmlost ein Kernproblem der Erkrankung.
Schlafstörungen bei ME/CFS sind kein Randphänomen, kein Begleitsymptom, keine Frage falscher Gewohnheiten. Sie sind Ausdruck einer tiefgreifenden neurologischen und autonomen Fehlregulation. Betroffene schlafen, aber sie erholen sich nicht. Der Schlaf erfüllt seine biologische Funktion nicht mehr.
Die Ursachen liegen nach heutigem Forschungsstand vor allem im zentralen Nervensystem. Hinweise sprechen für Funktionsstörungen im Hirnstamm und im Hypothalamus, also in jenen Regionen, die Schlaf-Wach-Rhythmen, autonome Steuerung und Übergänge zwischen Schlafstadien regulieren. Viele ME/CFS-Patientinnen und -Patienten gelangen nur eingeschränkt in den Tiefschlaf, der für körperliche Regeneration entscheidend wäre. Der Anteil des Slow-Wave-Sleep ist reduziert, der Schlaf bleibt oberflächlich und fragmentiert.
Hinzu kommt eine Fehlsteuerung des autonomen Nervensystems. Der Körper verharrt auch nachts im Alarmmodus. Adrenalinausschüttungen, Herzrasen, innere Unruhe oder abruptes Erwachen sind keine Seltenheit. Manche berichten von nächtlicher Luftnot oder dem Gefühl, dass der Kreislauf im Liegen instabil wird. Schlaf wird so zu einer Abfolge kurzer Bewusstseinsphasen, unterbrochen von Mikro-Weckreaktionen, die Betroffene oft nicht einmal bewusst wahrnehmen – der Körper aber schon.
Ein weiterer Faktor ist Neuroinflammation. Entzündliche Botenstoffe können die Schlafarchitektur stören und normale Zyklen unterbrechen. Der Schlaf verliert seine Tiefe und Struktur. Gleichzeitig sind viele Betroffene hochgradig reizempfindlich. Schmerzen, Geräusche, Licht oder Berührung führen zu weiteren Unterbrechungen. Selbst minimale Reize können den ohnehin fragilen Schlaf destabilisieren.
Auch der zirkadiane Rhythmus ist häufig verschoben. Einschlafen gelingt erst sehr spät, der Schlaf findet zu biologisch „falschen“ Zeiten statt. Manche Betroffene schlafen tagsüber und sind nachts wach – ohne dass dies Erholung bringt. Versuche, diesen Rhythmus gewaltsam zu „normalisieren“, verschlechtern die Situation oft.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Nickerchen selten helfen. Tagsüber zu schlafen kann den ohnehin gestörten Rhythmus weiter destabilisieren. Viele berichten, dass ruhiges Liegen, ohne zu schlafen, erholsamer ist als jeder Versuch, Schlaf zu erzwingen.
Ebenso erklärt sich, warum klassische Schlafmittel häufig enttäuschen. Sie können Bewusstlosigkeit erzeugen, aber keinen physiologisch gesunden Schlaf. Die Schlafstadien werden nicht normalisiert, die Erholung bleibt aus. Nebenwirkungen wie verstärkter Brain Fog oder eine Verschlechterung orthostatischer Symptome sind nicht selten. Manche profitieren dennoch – aber unvorhersehbar und oft nur begrenzt.
Was Schlafprobleme bei ME/CFS ausdrücklich nicht sind: keine primäre Insomnie aus Angst, kein Resultat schlechter Schlafhygiene, kein Ausdruck von Dekonditionierung und nicht schlicht „zu viel Zeit im Bett“. Solche Erklärungen verkennen die Pathophysiologie der Erkrankung und führen nicht selten zu schädlichen Therapieempfehlungen.
Schlafstudien werden bei ME/CFS häufig durchgeführt – und ebenso häufig als „unauffällig“ bewertet. Polysomnografien sind wichtige Ausschlussuntersuchungen. Sie können Schlafapnoe, periodische Beinbewegungen, parasomnische Störungen, relevante Sauerstoffabfälle oder nächtliche Herzrhythmusstörungen erkennen. Werden solche Begleiterkrankungen gefunden und behandelt, kann sich der Gesamtzustand durchaus verbessern.
Was Schlafstudien jedoch meist nicht erfassen, sind die qualitativen Besonderheiten des ME/CFS-Schlafs: nicht erholsamer Schlaf trotz langer Dauer, post-exertionelle Verschlechterung der Schlafqualität, autonome Instabilität oder neuroinflammatorische Prozesse. Die gängigen Bewertungssysteme wurden für andere Erkrankungen entwickelt. Ein „normaler“ Befund bedeutet daher nicht, dass der Schlaf gesund ist.
Für Betroffene ist das doppelt belastend: Einerseits bleibt das Kernproblem ungelöst, andererseits wird der Befund nicht selten genutzt, um Symptome zu relativieren oder psychologisieren. Dabei können selbst unauffällige Ergebnisse wichtig sein – sie schließen gefährliche Störungen aus und dokumentieren, dass das Problem nicht verhaltensbedingt ist.
Im Umgang mit Schlaf bei ME/CFS gilt deshalb ein anderes Ziel: nicht Optimierung, sondern Stabilisierung. Nicht Kontrolle, sondern Entlastung. Ruhe hat Vorrang vor Schlaf. Ein dunkles, reizarmes Umfeld, sanfte Abendroutinen, flexible Zeitfenster statt rigider Schlafpläne, vorsichtiger Umgang mit Licht und Reizen – all das kann helfen, ohne den Körper zusätzlich unter Druck zu setzen. Besonders wichtig ist, post-exertionelle Verschlechterungen konsequent zu vermeiden. Überlastung am Tag rächt sich fast immer in der Nacht.
Warnungen sind ebenso wichtig wie Empfehlungen. Schlafrestriktion, starre Aufstehzeiten, aggressive circadiane „Resets“ oder CBT-Programme, die PEM ignorieren, können ME/CFS deutlich verschlechtern. Auch körperliches Training zur angeblichen Schlafverbesserung ist kontraindiziert.
Am Ende bleibt eine unbequeme Erkenntnis: Schlafprobleme bei ME/CFS lassen sich nicht isoliert „reparieren“. Besserer Schlaf entsteht meist erst dann, wenn sich das gesamte Nervensystem beruhigt. Langsam, indirekt und oft nur in kleinen Schritten.
Der Schlaf von Menschen mit ME/CFS ist real gestört – auch wenn Messgeräte das nicht immer abbilden können. Ihn zu verstehen heißt, die Erkrankung ernst zu nehmen.
Quellen
- https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3501671/
- https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1087079223000278
- https://mecfs.org.au/resources/sleep-dysfunction
- https://mecfs-research.org/wp-content/uploads/2023/05/20230511-C3_Christian-Veauthier.pdf
- https://www.hopkinsmedicine.org/health/wellness-and-prevention/what-happens-in-a-sleep-study
- https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK563147/