Wenn die Hände weiß werden: Raynaud-Phänomen bei ME/CFS – ein oft übersehenes Warnsignal des Körpers

Es beginnt oft harmlos. Kalte Finger trotz Heizung. Taube Zehen, obwohl man sich kaum bewegt hat. Manche Betroffene beobachten, wie sich ihre Hände schlagartig weiß verfärben, dann bläulich werden – und schließlich rot anlaufen, begleitet von Brennen oder pochendem Schmerz. Was für Außenstehende nach einer banalen Kälteempfindlichkeit klingt, ist für viele Menschen mit Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) gelebter Alltag: das Raynaud-Phänomen.

Raynaud ist eine Gefäßfunktionsstörung, bei der sich kleine Arterien und Arteriolen übermäßig verengen. Auslöser sind klassischerweise Kälte, Stress, Lagewechsel – etwa vom Liegen ins Stehen – oder schon geringe Temperaturveränderungen. Typisch ist der dreiphasige Verlauf: Zunächst werden Finger oder Zehen weiß, weil die Durchblutung abrupt abbricht (Ischämie). Danach verfärben sie sich blau durch Sauerstoffmangel (Zyanose). Wenn das Blut zurückströmt, folgt die rote Phase, häufig begleitet von Schmerzen, Brennen oder starkem Pochen.

Bei ME/CFS bleibt es jedoch selten bei den „klassischen“ Arealen. Neben Fingern und Zehen können auch Nase, Ohren, Lippen oder ganze Füße betroffen sein. Viele Erkrankte berichten, dass ihre Hände selbst in Innenräumen, bei milden Temperaturen oder sogar im Bett eiskalt werden. Das ist kein Zufall – und kein separates Problem.

Warum Raynaud bei ME/CFS so häufig ist

Raynaud tritt bei Menschen mit ME/CFS deutlich häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung. Der Grund liegt in der Pathophysiologie der Erkrankung selbst. Die Mechanismen, die ME/CFS prägen, begünstigen Gefäßkrämpfe geradezu.

Ein zentraler Faktor ist die Dysfunktion des autonomen Nervensystems, auch Dysautonomie genannt. Bei ME/CFS ist die feine Balance zwischen sympathischem und parasympathischem Nervensystem gestört. Die Steuerung der Gefäßverengung funktioniert nicht mehr zuverlässig, die parasympathische „Gegenregulation“ greift zu spät oder unzureichend, und der Baroreflex – wichtig für Blutdruckstabilität – ist instabil. Die Folge: Blutgefäße reagieren überempfindlich auf eigentlich harmlose Reize wie Kälte oder emotionalen Stress.

Hinzu kommt ein weiterer, gut belegter Befund bei ME/CFS: ein reduziertes zirkulierendes Blutvolumen. Ist insgesamt zu wenig Blut im Kreislauf, priorisiert der Körper lebenswichtige Organe wie Gehirn und Herz. Die Durchblutung der Extremitäten wird gedrosselt – Hände und Füße werden kalt, blass oder schmerzhaft. Raynaud wird dadurch verstärkt oder überhaupt erst sichtbar.

Auch auf mikrovaskulärer Ebene zeigen sich bei ME/CFS deutliche Störungen. Studien beschreiben eine Dysregulation des endothelialen Stickstoffmonoxids, einen gestörten Kapillarfluss, Small-Fiber-Neuropathien, die auch die Gefäßsteuerung betreffen, sowie Hinweise auf mitochondriale Schädigungen in der glatten Gefäßmuskulatur. Diese Kombination macht die kleinsten Blutgefäße hyperreaktiv und anfällig für Spasmen.

Ein weiterer Verstärker ist der chronische orthostatische Stress. Viele ME/CFS-Betroffene leiden unter orthostatischer Intoleranz, etwa in Form von POTS (posturales Tachykardiesyndrom) oder NMH (neurally mediated hypotension). Um beim Stehen überhaupt ausreichend Blutdruck aufrechtzuerhalten, läuft das sympathische Nervensystem dauerhaft auf Hochtouren. Die Konsequenz: kalte, marmorierte, violette oder schmerzhaft blasse Hände und Füße – ein Raynaud-ähnliches Bild auch ohne klassische Kälteexposition.

Nicht zuletzt werden Enteroviren wie Coxsackie- oder Echoviren seit Langem als mögliche Trigger oder Persistenzfaktoren bei ME/CFS diskutiert. Diese Viren können periphere Nerven, autonome Ganglien und das vaskuläre Endothel infizieren. Das passt zu der Doppelproblematik aus Dysautonomie und Vasospasmus, die sich klinisch als Raynaud manifestiert.

Sekundäres Raynaud – Teil des ME/CFS-Gesamtbildes

Das Raynaud-Phänomen bei ME/CFS ist in der Regel ein sekundäres Raynaud. Es entsteht nicht primär durch Autoimmunerkrankungen wie Sklerodermie, auch wenn das äußere Erscheinungsbild ähnlich sein kann. Auslösend sind vielmehr Dysautonomie, niedriges Blutvolumen, mikrovaskuläre Funktionsstörungen und immunologische Aktivierung. Diese Einordnung ist wichtig, weil sie erklärt, warum klassische Erklärungen oft zu kurz greifen.

Wie sich Raynaud bei ME/CFS zeigt

Viele Betroffene berichten über kalte, taube Finger und Zehen, über weißes oder bläuliches Anlaufen der Haut und über Schmerzen beim Wiederaufwärmen. Häufig kommt es zu einer netzartigen, violetten Hautzeichnung, der sogenannten Livedo reticularis, zu verlangsamter Kapillarfüllung und zu einer ausgeprägten Empfindlichkeit gegenüber Klimaanlagen, kalten Räumen oder Wetterumschwüngen.

In schweren Verlaufsformen von ME/CFS kann die Problematik dramatische Ausmaße annehmen. Gliedmaßen werden selbst im Liegen eiskalt, Finger bleiben über Stunden blass oder zyanotisch, Small-Fiber-Neuropathien verschärfen die Gefäßinstabilität. Blutpooling und Vasospasmen können sogar ohne erkennbare äußere Auslöser auftreten.

Raynaud ist kein Zusatzproblem – sondern ein Symptom der Krankheit

Entscheidend ist: Raynaud steht bei ME/CFS nicht „neben“ der Erkrankung. Es ist Ausdruck derselben grundlegenden Störungen – der autonomen Fehlregulation, des reduzierten Blutvolumens, der gestörten Gefäßweite, der mitochondrialen Energiekrise und möglicher postviraler Schäden. Raynaud zeigt, wie sehr die periphere Durchblutung in Mitleidenschaft gezogen ist. Es ist ein sichtbares Zeichen der neurovaskulären Instabilität, die ME/CFS insgesamt prägt.

Was helfen kann – realistisch betrachtet

Eine kausale Therapie gibt es bislang nicht. Die Behandlung ist symptomorientiert und muss individuell angepasst werden. Nicht-medikamentöse Maßnahmen stehen im Vordergrund: Entscheidend ist, den Körperkern warm zu halten, denn warme Füße beginnen oft im warmen Rumpf. Beheizte Handschuhe oder Socken, warme Wasserbäder, das Vermeiden schneller Temperaturwechsel und konsequentes Pacing zur Reduktion sympathischer Überaktivierung können viel bewirken. Kompressionsstrümpfe, die bei ME/CFS häufig gegen Blutpooling eingesetzt werden, helfen indirekt auch der peripheren Durchblutung.

Medikamentös kommen in manchen Fällen Kalziumkanalblocker wie Nifedipin zum Einsatz, die als wirksamste Mittel gegen Raynaud gelten. Auch Nitroglycerin-Salben für die Fingerkuppen oder Pentoxifyllin zur Verbesserung der Mikrozirkulation werden manchmal verwendet. Niedrig dosiertes Midodrin kann paradoxe Vasospasmen reduzieren, indem es den Gefäßtonus insgesamt stabilisiert – ist aber nicht für alle geeignet, da es die orthostatische Symptomatik beeinflussen kann.

Wichtig ist zudem, die ME/CFS-typischen Treiber mitzubehandeln: Dysautonomie, niedriges Blutvolumen, orthostatische Intoleranz. Salz- und Flüssigkeitszufuhr, orale Rehydratationslösungen oder – in ausgewählten Fällen – Medikamente wie Fludrokortison können indirekt auch Raynaud-Symptome lindern. Ergänzend wird häufig versucht, den mitochondrialen Energiestoffwechsel zu unterstützen und Gliedmaßen schonend, ohne Belastung, zu wärmen.

Ein Puzzlestück im Gesamtbild

Raynaud tritt bei ME/CFS oft gemeinsam mit niedrigem Blutdruck, POTS und anderen Zeichen der autonomen Dysregulation auf. Zusammen ergeben sie ein klares Bild: eine Erkrankung, bei der die Gefäßregulation aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wer Raynaud bei ME/CFS versteht, versteht ein Stück mehr von der Krankheit selbst – und davon, warum so viele Symptome weit über das hinausgehen, was das Wort „Fatigue“ vermuten lässt.

Raynaud ist kein Randphänomen. Es ist ein Signal. Und es verdient, ernst genommen zu werden.