Wer unter Myalgischer Enzephalomyelitis / dem Chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS) leidet, kennt die zermürbende Erfahrung: nicht ernst genommen zu werden. Allzu oft wird diese schwere neuroimmunologische Erkrankung auf die vermeintlich harmlose Formulierung „chronische Müdigkeit“ reduziert – eine sprachliche Vereinfachung mit gravierenden Folgen. Denn ME/CFS ist weit mehr als Müdigkeit. Es handelt sich um eine komplexe, teils postinfektiöse Erkrankung, bei der zentrale biologische Prozesse des Körpers gestört sind, insbesondere die Energieproduktion auf zellulärer Ebene.
Energiekrise im Körper – warum „Fatigue“ nur die Spitze des Eisbergs ist
Ein anschauliches Beispiel verdeutlicht den Unterschied: Bei Krebspatient*innen in fortgeschrittenen Stadien kommt es häufig zu einer sogenannten Eisenmangelanämie. Der Körper hat zu wenig Eisen, um ausreichend Hämoglobin zu produzieren – das Molekül, das Sauerstoff in den roten Blutkörperchen transportiert. Ist die Sauerstoffversorgung der Zellen reduziert, erhalten auch die Mitochondrien, die „Kraftwerke der Zellen“, weniger Sauerstoff. Dadurch sinkt die ATP-Produktion – das ist die Energieeinheit, die jede Körperzelle braucht. Die Folge: körperliche Erschöpfung.
Bei ME/CFS hingegen ist genug Sauerstoff im Blut vorhanden – die Mitochondrien selbst sind jedoch gestört. Sie produzieren trotz Sauerstoff nicht mehr ausreichend ATP. Das Energieproblem liegt also nicht an der mangelnden Versorgung, sondern an einem defekten „Motor“. Dieser fundamentale Unterschied macht deutlich: Auch wenn das Symptom „Fatigue“ (Erschöpfung) ähnlich wirkt, sind Ursache und Krankheitsbild grundverschieden. Labortests zeigen bei ME/CFS-Patient*innen in der Regel keine Auffälligkeiten bei Eisen oder Hämoglobin – und doch ist ihre Energielosigkeit allumfassend und lähmend.
Post-exertional Malaise – wenn selbst leichte Belastung den Körper lahmlegt
Das herausragende Leitsymptom von ME/CFS ist nicht Müdigkeit, sondern die sogenannte „Post-Exertional Malaise“ (PEM) – auf Deutsch: Zustandsverschlechterung nach Anstrengung. Dabei handelt es sich um eine krankhafte Überreaktion des Körpers auf körperliche oder geistige Belastung. Schon geringe Aktivität kann zu einem massiven Rückfall führen, der Tage oder Wochen andauern kann. Betroffene erleben in dieser Zeit grippeähnliche Symptome, Gehirnnebel („brain fog“), Muskelschmerzen, Schlafstörungen und teils neurologische Ausfälle.
Diese Art der Belastungsintoleranz ist kein psychisches Symptom – sie ist biologisch messbar, wie zahlreiche Studien zur Stoffwechselaktivität, Immunfunktion und zellulären Energiebereitstellung bei ME/CFS zeigen (z. B. Davis et al., 2018; Germain et al., 2021).
Begrifflichkeiten mit Folgen – warum der Name zählt
Der Ausdruck „chronische Fatigue“ verharmlost die Erkrankung nicht nur – er führt auch in der medizinischen Versorgung zu Missverständnissen. Noch immer werden Patient*innen mit ME/CFS fehldiagnostiziert, oft mit psychischen Störungen wie Depression, Angst oder gar Somatisierungsstörungen. Diese Fehleinschätzung führt zu falschen Therapieansätzen wie „Graded Exercise Therapy“ (GET), die bei ME/CFS nachweislich schädlich sind. Die britische Gesundheitsbehörde NICE hat diese Methode 2021 offiziell aus ihren Leitlinien gestrichen und empfiehlt stattdessen striktes Pacing – das Management der eigenen Energie (NICE 2021).
Auch die US-amerikanische CDC (Centers for Disease Control and Prevention) hat in den letzten Jahren ihre Position überarbeitet. Sie betont inzwischen die biologische Grundlage von ME/CFS und warnt vor Missverständnissen durch unscharfe Sprache. International setzen sich daher Fachleute, Patient*innenverbände und Gesundheitsbehörden zunehmend für die präzise Bezeichnung ME/CFS ein – auch um der Stigmatisierung entgegenzuwirken.
Eine Frage der Barrierefreiheit und des Respekts
Die Abwertung der Krankheit auf das Symptom „chronische Müdigkeit“ wirkt nicht nur medizinisch unpräzise – sie ist auch ableistisch. Sie schließt Betroffene aus der gesellschaftlichen und medizinischen Teilhabe aus, weil ihre Beschwerden nicht ernst genommen werden. Für viele ME/CFS-Betroffene ist diese sprachliche Reduktion ein Trigger, da sie an jahrelanges Gaslighting in Arztpraxen erinnert – an Zeiten, in denen ihnen eingeredet wurde, ihr Leiden sei „nur psychisch“.
Wenn Ärztinnen weiterhin von „chronischer Fatigue“ sprechen, obwohl sie ME/CFS meinen, ignorieren sie nicht nur den aktuellen Stand der Wissenschaft – sie tragen aktiv zur Retraumatisierung und Unsichtbarkeit einer schwerkranken Patientinnengruppe bei.
ME/CFS endlich beim Namen nennen – für bessere Medizin und mehr Menschlichkeit
ME/CFS ist eine neuroimmunologische Multisystemerkrankung mit zellulärer Energiedysfunktion, die deutlich von simplen Ermüdungszuständen oder Depression abzugrenzen ist. Die korrekte Terminologie ist dabei keine akademische Haarspalterei – sie entscheidet über medizinische Versorgung, gesellschaftliche Wahrnehmung und über den Selbstwert der Erkrankten. Die internationale Fachwelt ist sich heute einig: Die Krankheit trägt den Namen ME/CFS.
Quellenverzeichnis
- CDC – Centers for Disease Control and Prevention. “Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS).”
https://www.cdc.gov/me-cfs/index.html - NICE – National Institute for Health and Care Excellence. “Myalgic encephalomyelitis (or encephalopathy)/chronic fatigue syndrome: diagnosis and management.” (2021).
https://www.nice.org.uk/guidance/ng206 - Davis, R. et al. “Metabolic features of chronic fatigue syndrome.” Proceedings of the National Academy of Sciences, 2018.
https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1710519115 - Germain, A. et al. “Insights into mitochondrial dysfunction in myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome.” Translational Psychiatry, 2021.
https://www.nature.com/articles/s41398-021-01274-1 - Komaroff, A. L., & Bateman, L. (2021). “Will COVID-19 Lead to Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome?” Frontiers in Medicine, 8.
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fmed.2021.606824