Wenn der Körper kollabiert, bevor der Crash beginnt: Warum reaktive Hypoglykämie bei ME/CFS mehr Aufmerksamkeit verdient

Menschen mit ME/CFS kennen das Prinzip des verzögerten Zusammenbruchs nur zu gut: Man funktioniert noch – und bricht erst viele Stunden oder Tage später ein. Der Begriff dafür lautet Post-Exertional Malaise (PEM) oder Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion (PENE). Es ist das Leitsymptom der Erkrankung, das ME/CFS von anderen chronischen Erschöpfungssyndromen abgrenzt. Doch was passiert, wenn sich neben diesem verzögerten Crash ein zweiter, unmittelbarer Absturz einstellt – wenige Minuten nach einer kleinen Mahlzeit oder einem kurzen Gang zur Toilette? Wenn plötzlich das Gehirn aussetzt, die Muskeln nachgeben, das Sichtfeld verschwimmt und der Körper in einen notfallartigen Zustand kippt? Dann könnte eine reaktive Hypoglykämie beteiligt sein – ein Symptom, das bei ME/CFS bislang kaum beachtet wird, aber in der Praxis hochrelevant ist.

Reaktive Hypoglykämie bezeichnet eine Unterzuckerung, die nicht durch Insulintherapie oder Diabetes verursacht wird, sondern durch eine überschießende Insulinantwort auf eine Mahlzeit. Besonders bei Menschen mit gestörter Stressregulation oder verändertem Energiestoffwechsel kann es zu einem paradoxen Verlauf kommen: Der Blutzucker steigt zunächst – oft zu stark –, der Körper reagiert mit einer massiven Insulinausschüttung, woraufhin der Zuckerspiegel rapide und manchmal gefährlich unter das Ausgangsniveau fällt. Bei Gesunden bleibt dieser Mechanismus meist symptomfrei. Bei vulnerablen Patienten jedoch, wie jenen mit ME/CFS, kann der resultierende Abfall in einen Zustand akuter Unterversorgung münden – mit Symptomen wie Zittern, kognitiver Entkopplung, Schwäche, Sprachstörung, Orientierungslosigkeit, Tachykardie, Schwindel oder sogar Bewusstseinsverlust.

Gerade bei ME/CFS ist das Risiko für solche Blutzuckerentgleisungen besonders hoch. Eine zentrale Rolle spielt dabei die häufig nachgewiesene Dysregulation des autonomen Nervensystems (ANS). Dieses regelt unbewusste Prozesse wie Kreislauf, Atmung, Verdauung – und eben auch den Zuckerstoffwechsel. Bei vielen ME/CFS-Betroffenen ist das ANS dauerhaft im Alarmzustand. Der Sympathikus, der Teil des Nervensystems, der auf Kampf oder Flucht programmiert ist, dominiert. Der Parasympathikus, zuständig für Ruhe, Regeneration und Ausgleich, wird unterdrückt. Das führt zu einem Zustand chronischer innerer Anspannung – auch dann, wenn eigentlich Ruhe herrschen sollte.Was das für den Zuckerstoffwechsel bedeutet: Die Stressantwort läuft über. Der Körper schüttet konstant erhöhte Mengen an Adrenalin, Noradrenalin und – in früheren Stadien – Cortisol aus. In späteren Stadien jedoch zeigt sich oft ein funktioneller Cortisolmangel, was die Fähigkeit zur Gegenregulation weiter einschränkt. Diese Dysbalance macht den Organismus besonders anfällig für abrupte Schwankungen des Blutzuckers. Das Essen selbst wird zum Stressor – und zwar in einem System, das ohnehin bereits auf Anschlag läuft. Das Ergebnis: abrupte, teils notfallartige Hypoglykämiezustände.

Hinzu kommt, dass bei ME/CFS die Energieversorgung auf Zellebene oft schwer gestört ist. Studien zeigen Hinweise auf mitochondriale Dysfunktionen – also eine verminderte Fähigkeit der Zellen, aus Zucker oder Fett Energie (ATP) zu gewinnen. Selbst wenn also Glukose im Blut vorhanden ist, gelingt es den Zellen nicht, daraus ausreichend nutzbare Energie zu erzeugen. Doch selbst dahin gelangt der Zucker häufig nicht: Viele ME/CFS-Patient:innen leiden an Mikroangiopathien – also Durchblutungsstörungen in den feinsten Gefäßen. Ob Gehirn, Muskulatur oder Herz – viele betroffene Gewebe werden unzureichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Eine systemische Unterversorgung ist die Folge. In der Summe bedeutet das: Es ist zwar Zucker da, aber er kommt nicht an. Und selbst wenn er ankommt, kann er nicht verwertet werden.

Besonders gefährlich ist diese Kombination aus Stressfehlregulation, Energiemangel und Mikrozirkulationsstörung in Situationen, die körperlich oder psychisch fordernd sind. Denn solche Abstürze treten nicht nur nach dem Essen auf. Auch geringe Aktivität – wie der Gang zur Toilette, kurzes Stehen, Zähneputzen oder Treppensteigen – oder emotionale Reize können bei ME/CFS zu einem abrupten Blutzuckerabfall führen. Der Grund liegt in der gestörten Fähigkeit des Körpers, Glukose aus der Leber freizusetzen und die hormonelle Gegenregulation effektiv einzuleiten. Während der gesunde Organismus Belastungssituationen mit erhöhter Glukosefreisetzung puffert, ist bei ME/CFS genau dieser Puffer dysfunktional oder erschöpft.

Die Symptome dieser Abstürze ähneln einem Systemkollaps: Die Muskulatur kann „einfach abschalten“, das Denken blockiert, die Koordination versagt. In schweren Fällen verlieren Betroffene die Kontrolle über Sprache, Haltung, Bewegungsfähigkeit – sie „frieren ein“, müssen sich sofort hinlegen oder verlieren im schlimmsten Fall das Bewusstsein. Anders als bei PEM oder PENE, das mit zeitlicher Verzögerung einsetzt, passiert dies ohne Vorwarnung – mitten im Alltag.

Reaktive Hypoglykämie bei ME/CFS ist kein Nebenschauplatz, sondern potenziell ein Schlüsselsymptom, das die funktionellen Einschränkungen im Alltag massiv verschärft, das Risiko für Stürze und kognitive Ausfälle erhöht und Hinweise auf tiefgreifende Störungen im autonomen, endokrinen und metabolischen System liefert. Es sollte diagnostisch berücksichtigt und therapeutisch adressiert werden – etwa durch CGM-Systeme (kontinuierliche Glukosemessung), angepasste Ernährung, Stressreduktion und körperliche Schonung. Nicht zuletzt liefert sie auch Hinweise auf den Schweregrad der Erkrankung, der sich im Gesamtbild oft nicht in einem einzelnen Marker abbilden lässt.

Insbesondere bei Patient:innen, die nicht nur zeitverzögert, sondern auch unmittelbar nach leichter Aktivität, kleinen Mahlzeiten oder psychischer Belastung kollabieren, sollte diese Komponente ernst genommen werden – besonders, wenn bereits Hinweise auf POTS, Dysautonomie, Mikrozirkulationsstörung oder Mitochondriopathie vorliegen.

ME/CFS ist keine Erkrankung, bei der sich Symptome linear oder logisch verhalten. Und genau deshalb sollten wir auch auf das hören, was oft übersehen wird: Wenn Menschen berichten, dass sie „wie ausgeknipst“ sind – nicht Stunden später, sondern innerhalb von Minuten – dann lohnt es sich, an den Blutzucker zu denken. Reaktive Hypoglykämie ist bei ME/CFS kein seltenes Kuriosum, sondern möglicherweise ein gefährlich unterschätzter Baustein im komplexen, multisystemischen Krankheitsgeschehen.